Unser Orthopädietechniker (OT) & Clinical Specialist in den USA, Richard Miltenberger, hat sich mit Joe Johnson CEO & OT bei Quorum Prosthetics über die digitalen Veränderungen der letzten Jahre in der Orthopädietechnik unterhalten. Mit seinem innovativen, 3D-gedruckten Quatro-Socket - einem Schaft, der sich über den Tag hinweg anpassen lässt - hat Joe eine neue Richtung eingeschlagen und den Durchbruch geschafft. In dieser Folge von #MecurisMeets erfahren Sie mehr darüber.
Joe Johnson hat bei der Entwicklung seines 3D-gedruckten Schaftes die Möglichkeiten digitaler Technologien voll ausgeschöpft: Beim Quatro können Anwender den Schaft während des Tages selbst nachjustieren. Diese innovative Lösung, die er nur durch eine Kombination von 3D-Technologien auf allen Entwicklungs- und Fertigungsebenen erreichen konnte, führt ihn auf seinem Weg hin zum "perfekten Schaft" einen entscheidenden Schritt weiter. Unser Kollege Richard sprach mit Joe über dieses Produkt, die digitale Möglichkeiten in der Orthopädietechnik und was dies ür seine Patienten bedeutet.
Auszüge aus dem live-Interview. Der Inhalt wurde zum besseren Verständnis angepasst und aus dem englischen übersetzt. Die vollständige Aufzeichnung des Video-Interviews auf englisch finden Sie unten.
Richard: Erzähle uns etwas über den Quatro Schaft. Was macht ihn so besonders und was hat dich dazu gebracht, diesen einzigartigen Schaft zu entwickeln?
Joe: Der Quatro entspricht in seinem Design eigentlich eher einer Strategie. Er ermöglicht es dem Anwender, den Sitz des Schaftes im Laufe des Tages an die Volumenschwankungen des Stumpfes anzupassen. Dahinter steckt ein sehr komplexes Design, das dank additiver Fertigung realisiert werden konnte. Wie ich dazu gekommen bin? Ich bin ein Handwerker und immer auf der Suche nach dem perfekten Schaft. Bei meiner Arbeit mit Patienten erkannte ich den Bedarf an einem verstellbaren Schaft, um den Komfort während des Tages zu erhöhen. Nach gefühlten 1000 Iterationen waren wir bereit, den Quatro-Schaft zu produzieren.
Richard: Da du selbst Unterschenkelamputiert bist, hattest du auch einen persönlichen Anreiz und Antrieb. Erzähle uns doch von den Anfängen des Quatro und wie du auf genau diese Lösungs-Idee gekommen bist.
Joe: Ich habe mein Bein 1984 bei einem Motocross-Unfall direkt unterhalb des Knies verloren, was nicht ideal ist. Es ist eine sehr kurze Amputation. Ursprünglich war der Quatro für Oberschenkelamputationen gedacht. Aber dank der MJF-Drucktechnologie (Anmerkung: MJF = Multi Jet Fusion) und der präzisen Technik, die in diese Schäfte einfließt, waren wir in der Lage auch trans tibiale Schäfte herzustellen. So können wir sie jetzt auch für solch schwierige Amputationen wie die meinige verwenden.
Richard: Als du deine Idee das erste Mal ausprobiert hast, war das wohl noch nicht mit 3D-Technologien?
Joe: Oh nein. Zuerst handelte es sich um eine Nasslaminierung. Dafür brauchte ein Techniker 8-12 Stunden, um es herzustellen. Das war ein ziemlich schmutziger Prozess. Noch dazu war er ungenau, weil in der Kommunikation zwischen mir als OT und dem ausführenden Techniker ziemlich viel Interpretationsspielraum offen blieb. In dieser Phase haben wir nie den perfekten Schaft hergestellt.
Richard: Hat dich das zu einer digitalen Lösung getrieben? Wie viele Jahre ist es her, dass du mit dem Einsatz digitaler Technologie begonnen hast, um deine Arbeitsabläufe und Prozesse zu verbessern?
Joe: Eigentlich ist es erst etwa 3 Jahren her, dass wir angefangen haben digital zu arbeiten. Wir haben einen Forschungszuschuss gewonnen und man hat uns auf Multi Jet Fusion (MJF) als 3D-Drucktechnik hingewiesen. Das war das erste Mal, dass ich von dieser Technologie gehört habe. Ich wusste nicht einmal, wofür MJF steht. Vorher kannte ich nur FDM-Drucker. Das war das einzige, was ich in Bezug auf den 3D-Druck im Kopf hatte. Und diese Technologie hielt ich für unsere Branche nicht für geeignet und ausgereift genug. Und glaub mir, da lag ich sowas von daneben!
Richard: 3 Jahre sind keine lange Zeit! Warst du schon immer ein Tüftler und Visionär in diesem Sinne? Um neue Ideen gleich so für dich zu nutzen?
Joe: Ja, irgendwie schon. Aber ich denke, dass jeder Handwerker in unserem Bereich - egal ob es um Prothesen oder Orthesen geht - selbst ein Erfinder ist. Um eine gute Versorgung zu gewährleisten, muss man kreativ sein.
Richard: Dem stimme ich zu. Und ich denke, dass du für viele Menschen eine Inspiration bist. Du hast ein weithin bekanntes, branchenveränderndes Produkt geschaffen. In dieser Hinsicht bist du ein Vorbild. Glaubst du, dass es der 3D-Druck war, der dir das ermöglicht hat?
Joe: Es ist eine Kombination aus so vielen Faktoren. Ein großartiges Entwicklungsteam, kreative Ideen, Software und MJF als Drucklösung. Die Kombination aus Hardware und Software hat das Ganze vorangebracht. Das ganze System und der dahinter stehende digitale Workflow bestehen aus so vielen verschiedenen technischen Komponenten. Das hat uns erstaunliche Möglichkeiten eröffnet. Ich glaube, Hewlett-Packard bezeichnet Multi Jet Fusion sogar als die "4. industrielle Revolution". Dem stimme ich zu.
Richard: 3D Druck scheint förmlich explodiert zu sein und hat endlich den Weg in die Prothetik gefunden zu haben. Es hat für mich den Anschein, dass die Materialien jetzt zu den Ideen aufschließen, denen sie dienen sollen. Siehst du das auch so?
Joe: Yeah. Ich denke, es ist der Wunsch oder sogar der Traum eines jeden Behandelnden, seine Produkte zu optimieren. Schäfte zum Beispiel. Mein Team und ich sind wirklich sehr stolz auf unser Endprodukt. Es funktioniert unglaublich gut - ich bin der lebende Beweis dafür. Meine Prothese hat zum Beispiel fast 4 Millionen Schritte gemacht. Nur um gleich auch eine Antwort auf die häufige Frage nach der Haltbarkeit und Lebensdauer eines 3D-gedruckten Schaftes zu geben. Wir werden in naher Zukunft sogar einige Studien über den Unterschied zwischen unserem 3D-gedruckten Schaft und einem aus Carbonfaser hergestellten Schaft vorlegen.
Richard: Quorum Prosthetics gibt es seit etwa 24 Jahren und ihr habt ein paar Standorte in Colorado. Wird diese Technologie all euren Patienten zur Verfügung gestellt?
Joe: Ja. Wir sind immer auf der Suche nach der perfekten Passform. Zurzeit wird der Quatro bei etwa der Hälfte unserer Patienten eingesetzt. Wir versuchen, es bei allen einzusetzen, aber das ist je nach Versorgung unterschiedlich. Ich würde sagen, dass wir in etwa einem Jahr alle Patienten damit versorgen können. Wir sind gerade dabei, all die kleinen "Macken" im Herstellungsprozess auszumerzen. Das wird zu noch schnelleren Behandlungszeiten führen.
Zudem haben wir mit unserem Ansatz die Möglichkeit, bei jedem einzelnen Patienten problemlos Versorgungen zu reproduzieren oder mit kleinsten Änderungen zu wiederholen. Sobald wir die jeweiligen Schäfte in unserem digitalen Modell haben, können wir problemlos Anpassungen vornehmen. Früher musste man Schäfte ausschleifen oder sehen, was man aus dem verwendeten Material noch rausholen konnte oder ob man es schon zum Äußersten ausgereizt hat. Man hat einfach versucht, das Beste aus dem herauszuholen, was man zur Verfügung hatte.
Jetzt können wir das Modell digital nach unseren Anforderungen optimieren und neu drucken. Die Folgeversorgung ist dabei natürlich lang nicht so teuer, da nur die Druckkosten anfallen und nicht mehr die komplette Konstruktion. So erhalten wir schnell ein besseres Ergebnis.
Richard: Was glaubst du. Im Vergleich zu vor drei Jahren, wie weit versorgt ihr mittlerweile digital? Kann man das sagen?
Joe: Wir sind eine Menge Risiken eingegangen. Wir haben in Software, Arbeitskraft und Drucker investiert und haben versucht, alles unter einen Hut zu bekommen. Allein bei der Druckertechnologie gibt es so viele Auswahlmöglichkeiten. In der Frage allein war es sehr wichtig, von Ingenieuren gut beraten zu werden. Wir haben einen großen Schritt nach vorne gemacht! Wir konnten mit Unternehmen wie eurem - Mecuris - mit Lubrizol und Hewlett-Packard kooperieren. Tests mit der Universität von Boulder machen. All diese Elemente fügen sich jetzt zusammen und verschaffen uns einen Vorteil.
Richard: Eine der Fragen, die sich OTs oft stellen, ist: Wie viel besser ist digitales Design? Und: Warum sollte ich umsteigen, wenn das, was ich tue, funktioniert? Was ist deine Meinung dazu?
Joe: Das ist mehr als verständlich. Letztlich kommt es auf die Präzision an, die man mit digitalen Verfahren erreichen kann. Wenn ich mir all die alten Test-Schäfte ansehe, die ich aus verschiedenen Gründen aufbewahre, frage ich mich: Kann ich mich in 6 Monaten oder in 1 Jahr noch daran erinnern, welche Änderungen ich zuletzt an dieser Form vorgenommen habe? Könnte ich diesen Schaft problemlos wiederherstellen, wenn der Patient eine Änderung benötigt? Jetzt kann ich sie digital abrufen und genau sehen, was gemacht wurde. Wir können sogar prozentual genau nachvollziehen, wie viel Volumen ein Patient verloren hat.
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Material: Erfahrungen zum Druck von Pulver PA 12 vs. PA 11 und TPU (Lubrizol)
3D-Druck mit Multi Jet Fusion von HP und wie sich so ein Schaft für einen Amputierten anfühlt
Unsere Zusammenarbeit: Wie wir Joes neuesten Schaft mit der Mecuris Solution Platform modelliert haben
DeepDive (20 Minuten, englisch): Erfahren Sie im Detail, wie Sie die neuen Werkzeuge für die Modellierung eines Stumpfes auf der Mecuris Solution Platform anwenden können.
Auf deutsch können wir Ihnen für diesen Part auch das Interview mit Denise Schindler ans Herz legen, bei dem wir die Modellierung eines Stumpfes ebenso zeigen.
Holen Sie sich jetzt Ihre Aufnahme zu #MecurisMeets Joe Johnson!
Vielen Dank an Joe für das tolle Interview und auch an Jack Fleischmann, der es mit seinem wertvollen Wissen bereichert hat!
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