Vom Rollstuhl zur Orthese - Wie sich eine junge Frau zurück in’s Leben kämpft
Bald vier Jahre ist der Unfall her, der Leas Welt auf den Kopf gestellt hat. Ein Tag im Leben, der plötzlich alles verändert und Lea auf die Suche nach Hilfsmitteln schickt, die ihr Leben wieder lebenswert machen. Denn schnell stand fest: Der Rollstuhl kann nur ein Zwischenschritt auf diesem Weg sein. Die entscheidenden Schritte will sie wieder selbst tätigen. Ab sofort mit einer optimal passenden, hybrid gefertigten Unterschenkelorthese - also einer Orthese, die teil-digital gefertigt wird. Wie es dazu kam, erfahren Sie in diesem Blogbeitrag.
Lea ist gerade einmal 18 Jahre alt und befindet sich in der Ausbildung zur Operationstechnischen-Assistentin, als ein Arbeitsunfall im Sommer 2019 ihr Leben grundlegend verändert. Sie stürzt unglücklich und verletzt sich schwer. Als sie auf der Intensivstation aufwacht, kann sie nicht mehr laufen, ihre Beine nicht mehr spüren. Sie kann sich nicht selbstständig anziehen, benötigt Hilfe beim Essen und ist von heute auf morgen ein Pflegefall.
“Warum ich? Warum jetzt?”, fragt sich Lea in dieser Zeit ständig. “Mein Körper war übersät mit Narben an den Beinen, dem Rücken und dem Bauch. Meine Lungenkapazität gab nicht viel her. Ich konnte nur sehr leise sprechen oder gar lachen. Mein Brustkorb fühlte sich an, als würde jemand darauf stehen.” So beschreibt Lea ihren damaligen Zustand. Aber sie begann zu kämpfen, selbst als sich herausstellt, dass ihre Beinmuskulatur dauerhaft gelähmt bleiben würde. Zusammen mit der Unterstützung von Familie und Freunden und im Team mit ihren Technikern im Sanitätshaus macht die 22-Jährige entscheidende Schritte nach vorne und trägt mittlerweile eine hybrid gefertigte Unterschenkelorthese.
Diagnose: “Seltene Erkrankung”
Wenn plötzlich selbstverständliche Tätigkeiten wie das Gehen oder das Greifen nach Gegenständen nicht mehr möglich sind, weil das Bein oder der Arm nicht mehr mitmachen, liegt eine Lähmung, eine sogenannte Parese (“páresis” griechisch für “erschlaffen”) vor. Bei einer Paraparese, von der Lea seit ihrem Unfall betroffen ist, handelt es sich um die teilweise Lähmung zweier paralleler Gliedmaßen (meistens beide Beine). Diese Lähmung von Muskelgruppen tritt als Begleiterkrankung z.B. in Folge eines Schlaganfalls oder einer Schädigung eines motorischen Nervs im zentralen Nervensystem auf. (Quelle)
Aufgrund ihrer Parese leidet Lea unter enormen Gleichgewichtsstörungen und Koordinationsproblemen. Die fehlende Sicherheit im Knie birgt eine erhöhte Sturzgefahr. Seit ihrem Unfall ist sie deshalb auf Hilfsmittel angewiesen. Der Rollstuhl war ihr täglicher Begleiter.
Zudem leidet Lea an einem komplexen regionalen Schmerzsyndrom (CRPS). Hierbei handelt es sich um einen chronisch neuropathischen Schmerz, der länger andauert und stärker ist, als nach dem ursprünglichen Gewebeschaden zu erwarten wäre. In Leas Fall ebenfalls eine Folge der durch den Unfall verursachten Nervenschädigung. (Quelle)
Damit ist Lea einer von schätzungsweise vier Millionen Menschen in Deutschland, die an einer seltenen Erkrankung leiden (Quelle). Wie oftmals der Fall mit CRPS, verläuft die Krankheit auch bei Lea chronisch und bedeutet massive Einschränkungen im Alltag und in der Lebensqualität.
Erfolgsmoment dank Schweizer Studie
Ende 2021 dann ein erster Hoffnungsschimmer: Ihr behandelnder Neurologe und ein Neurochirurg kommen auf sie zu und machen sie auf eine Schweizer Studie aufmerksam, an der sie teilnehmen wird. Zwei Operationen stehen bevor. In der ersten wird eine Elektrodenplatte auf der Rückenmarkshaut ihres geschädigten Segments befestigt und seitlich der Rippen an einen externen Impulsgeber angeschlossen. Nach der positiven Testphase wird in einer zweiten Operation der Impulsgeber implantiert und die Kabel unter die Haut verlegt. “Der Cyborg wurde geschaffen! 😅🤖”, scherzt Lea in einem Post dazu auf ihrem Instagram-Kanal.
Nach einer intensiven Reha-Phase dann die ersten Erfolge: Ihr Nervenschmerz konnte um mehr als 50% reduziert und die Sensibilität der Oberschenkel zurückgewonnen werden. “Die Einschränkungen nach den OPs sind zwar nicht ohne und es dauert einige Monate, bis Knochen, Muskeln, Narben als auch das Nervensystem sich daran gewöhnt haben, ABER es hat sich ausgezahlt und mir ein Stück Lebensqualität zurückgegeben.” schreibt Lea.
Jetzt gilt es: Laufen lernen
Im Sommer 2022 dann der nächste Lichtblick: Drei Jahre nach ihrem Unfall, nach hartem Training und dank moderner Technik, kann Lea endlich wieder stehen - auf beiden Beinen: Auf der einen Seite ausgestattet mit einem C-Brace von Ottobock, auf der anderen mit einer Unterschenkelorthese.
Das C-Brace, ein “elektronisches Bein” auf der rechten, schwächeren Seite, ermöglicht es ihr zu gehen, zu laufen, Treppen zu steigen und leichte Steigungen zu bewältigen. Die nötige Unterstützung auf der anderen Seite erhält sie in Form einer AFO. “Nun startet für mich eine neue Zeitrechnung!”, freut sich Lea, die ganz genau weiß wie viele Tage seit ihrem Unfall vergangen sind.
Der Orthopädietechniker tüftelt weiter: Kombination aus digitalem Modellieren und Pre-Preg
Zunächst ist Lea an ihrem linken Unterschenkel mit einer Carbon-Federorthese versorgt. Diese bietet ihr jedoch zu wenig Unterstützung und Sicherheit - es muss eine neue Lösung her. Eine Knöchel-Fuß-Orthese, die stützt und mobilisiert, und ein flüssiges sowie effizientes Gehen ermöglicht, ist das Ergebnis, das Orthopädietechniker Aaron Wassermann anstrebt. Um dies zu ermöglichen, greift Aaron auf ein System zurück, das sich für ihn bewährt hat: Die Kombination aus digitalen und manuellen Arbeitsschritten im Herstellungsprozess.
Aaron ist seit August 2022 ausgelernter Orthopädietechniker im Sanitätshaus Rohde. Er hat schon an die zehn digitalen Versorgungen vorzuweisen und ist von den Vorteilen überzeugt. Für ihn steht fest, dass eine erfolgreiche Versorgung optimal an den jeweiligen Patienten angepasst sein muss. Er hat für sich die Erfahrung gemacht, dass vor allem in der Korrektur und der Modellierungsphase die Vorteile des digitalen Arbeitens überwiegen. So kann er schneller als mit herkömmlichen Methoden feinste Anpassungen machen, verschiedene Ergebnisse vergleichen und Prozessschritte noch einmal ändern. Kurz: Am Computer kann er so lange tüfteln, bis er das bestmögliche Ergebnis hat und zufrieden ist.
Aaron ist inoffiziell “Digitalisierungsbeauftragter” bei Rohde - er soll Unsicherheiten abbauen, die Möglichkeiten neuer Technologien austesten und die Ergebnisse ins Team tragen. Insgesamt ist das Sanitätshaus auf seinem Weg in eine digitale Zukunft sehr weit: Bei Versorgungen in der Orthetik wird bereits jetzt teil-digital gearbeitet, d.h. ein Teil der Orthese wird traditionell, der andere digital erstellt. 20-30% der Versorgungen in der Orthetik, darunter besonders Lagerungsorthesen, werden bereits jetzt voll digital, also vom Scan bis zur 3D gedruckten Schiene, erstellt - Tendenz steigend.
Aarons Plan für Leas Orthese: Er will die Haltungskorrektur und Modellierung digital vornehmen, die Zweckform anschließend extern fertigen lassen und dann im Prepreg-Verfahren die Orthese bauen. Die Vorteile dieses Vorgehens sieht er in einer “enormen Zeitersparnis und einem sauberen Arbeiten, auch am Patienten”.
Die hybrid gefertigte Versorgung: Vom Scan zur fertigen Carbonorthese
Um das gewünschte Ziel zu erreichen, wird erst einmal Leas Bein gescannt. Der Scan-Vorgang ist üblicherweise nicht nur für den Orthopädietechniker schneller, sondern auch weitaus angenehmer für den Patienten. "Die Herstellung der Orthese war [für mich] mit deutlich weniger Aufwand verbunden. Es gab kein großes "Gips Chaos" wie vorher. Der Gipsabdruck für das rechte Bein war ein großer Aufwand, da ein Bein ohne Spannung sehr schwer ist und es mehrere Personen zum Halten/Gipsen brauchte. Zudem ist das Gipsen für mich als Kundin ein großer Kraftaufwand für den Körper. Der Scan ging super schnell und ohne Probleme.” bestätigt Lea.
Die anschließende Haltungskorrektur und Modellierung der Zweckform mit Hilfe der Software von Mecuris erfolgte digital in einer Stunde. Für die Haltungskorrektur, bestehend aus der Dorsalextension, Prosupination und der Vorfußeinstellung, brauchte Aaron zehn Minuten und ermöglichte ihm zwischendurch immer wieder den Abgleich mit dem Originalscan.
Bei der anschließenden 50-minütigen Zweckformmodellierung wurde zunächst das in der Haltung korrigierte Modell im digitalen Gitter ausgerichtet und Unebenheiten wie Ecken und Kanten entfernt. Dann wurde mit dem “Auftragen”-Werkzeug Material an der Knöchelgegend und mit dem “Zusammenführen”-Werkzeug eine Vorfuß-Erweiterung (Zehenbox) angebracht. Die umliegenden Bereiche wurden geglättet und ein Versatz von vier Millimetern schaffte Platz für die spätere Polsterung. Die Funktion “Globales Glätten” sorgte schlussendlich für flächendeckend gleichmäßige Übergänge. Als letzter Schritt wurde die Gelenk-/Drehachse (“Tangogelenk”) gesetzt und die fertige .stl-Datei heruntergeladen.
Hybride Herstellung: Erst in den 3D-Druck, dann in den Backofen
Die digitale Datei ging als nächstes an Cure-Lab, ein Hamburger Unternehmen spezialisiert auf 3D-Druck für die Orthopädietechnik. Im FDM-Verfahren druckten sie Leas modelliertes Bein in circa 17 Stunden. Dabei wurde das Material PA-CF verwendet, das sich durch eine außergewöhnliche Festigkeit, Haltbarkeit, thermische Stabilität und Steifigkeit auszeichnet.
Mit Hilfe der 3D-gedruckten Zweckform wurde nun die fertige Orthese im Prepreg-Verfahren (siehe Bild) hergestellt. Dabei wurde zunächst das Carbongelege auf das Modell gelegt und Anker für die Gelenke eingearbeitet (1). Anschließend wurde eine Folie zur Erzeugung eines Vakuums über das Carbongelege gezogen (2). Dann wurden Carbon und Harz im Backofen bei 80 Grad erhitzt (3) bis das Harz ausgehärtet war (4).
Die Vorteile einer solchen Carbon-Orthese sind enorm: Sie ist sehr stabil und fest, aber allen voran ist sie besonders leicht.
Überzeugendes Ergebnis: Runderes Laufen und besseres Passformgefühl
Durch die Kombination aus traditionellen Handwerkstechniken und digitalen Lösungen konnte eine maßgeschneiderte Orthese für Lea geschaffen werden, die ihr Stabilität und Komfort in vorher nicht möglicher Form bietet. “Meine neue Orthese ist funktioneller und deutlich individueller als der Vorgänger. Sie passt einfach perfekt an meinem Bein. Sie ist wie eine zweite Haut.”, freut sich Lea. Sie und Aaron sind sich einig, dass der hybride Herstellungsprozess einen neuen Standard für die orthopädische Versorgung setzt.
“Ich kann nun runder Laufen und habe ein besseres Passformgefühl. Ich kann endlich wieder loslegen. Ich kann frei stehen und bald vielleicht sogar alleine gehen.”, ist Leas erste Einschätzung zur neuen Orthese. Eine helfende Hand reicht ihr Vater gerne. Und auch wenn es derzeit noch nicht ganz alleine klappt, hat Lea dennoch eine wahnsinnige Reise zurückgelegt - den Rollstuhl benötigt sie erst einmal nicht mehr.
Leas Geschichte ist ein inspirierendes Beispiel dafür, wie der hybride Ansatz in der orthopädietechnischen Versorgung das Leben der Patienten nachhaltig verbessern kann und motiviert uns als ganzes Team weiter, an bestmöglichen digitalen Werkzeugen zu tüfteln.
Wir wünschen Lea und Aaron alles Gute für die Zukunft und bedanken uns herzlich bei Aaron, dass er seine Erfahrungen mit uns geteilt hat.
💡 Sie wollen mehr zu unseren digitalen Werkzeugen und den digitalen Workflows erfahren? Verschaffen Sie einen Überblick im Webinar-Recording: "In 3 Schritten zur digital erstellten Orthese" >>
Mehr zu dem Thema hybrides Verfahren und Pre-Preg: Auch Kollegen in den USA arbeiten gerne mit der Kombination aus digitalen und manuellen Prozessen. Kennen Sie schon den Blogartikel über unser Gespräch mit Gary Wall? Lesen Sie jetzt rein: Die Kombination digitaler Werkzeuge mit Carbon-Technik bei der Herstellung individueller AFOs/KAFOs
Gestalten Sie mit uns Ihre Zukunft!
Vereinbaren Sie einen Termin für eine Präsentation der Mecuris-Software - der Mecuris Solution Platform - und beginnen Sie mit der Optimierung Ihres Unternehmens
>> Wählen Sie hier einen für Sie passenden Termin